Frühlings Erwachen - AD Theater-AG

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Vergangene Spielzeiten > Spielzeit 2005 / 2006
Frühlings Erwachen
von Frank Wedekind

„Da Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit.
Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige zu hängen.“
 
Wendla, Moritz, Melchior und Ilse, vier Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden mit ihren Sorgen und Nöten, Ahnungen und Gefühlen. Meistens sind sie alleingelassen. Hilfe finden sie höchstens untereinander bzw. bei den weiteren gleichaltrigen Freundinnen und Freunden, den Klassenkameraden, denn die Erwachsenen – egal ob in der Familie, in Schule oder Kirche – sind ihnen keine Stütze. Die Erwachsenen sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die eigene Kindheit, die eigene Pubertät liegt hinter ihnen, mehr verdrängt als verarbeitet.
  Frank Wedekinds Drama, das er im Alter von 26 Jahren in der Zeit um 1890/91 verfasste, hat eine aufgeregte Bühnengeschichte hinter sich. Uraufgeführt wurde es erst 1906, und auch in den Jahren danach hat die Zensur immer wieder zugeschlagen. Zu brisant war das Thema, zu offen der Umgang mit den Nöten der jungen Heranwachsenden. Aber auch heute, knapp hundert Jahre nach der Berliner Erstaufführung, in der Wedekind persönlich als der Vermummte Herr auf der Bühne stand, hat das Stück wenig von seiner Zugkraft verloren. Wenn damals das Thema Sexualität tabuisiert wurde und ein Dialog mit den Erwachsenen nicht möglich war, so hat sich die Präsenz der Sexualität in den Medien zwar grundlegend geändert, aber die Gespräche mit den Eltern darüber sind genauso peinlich wie ehemals. Waren die Erwachsenen damals nicht bereit, die Heranwachsenden als gleichberechtigte Gesprächspartner zu akzeptieren, so sind heutige Erwachsene oft nicht in der Lage: Väter sind berufstätig und karrierebewusst, Mütter alleinerziehend oder in einer Phase der Selbstfindung bzw. Selbstverwirklichung, ältere Geschwister in eigenen Beziehungskrisen, die Lehrer eingebunden und verbohrt im System Schule, eher um den Ruf der Institution besorgt als an der Qualität der erzieherischen Arbeit interessiert.
  So zeigt denn nun Wedekinds Klassiker, welche tödliche Mischung entstehen kann, wenn Jugendlicher Drang und erwachsene Ignoranz aufeinander treffen.

Melchior Gabor
Herr Gabor, sein Vater
Frau Gabor, seine Mutter
Malte S.
Lars B.
Sina K.
Wendla Bergmann
Frau Bergmann
Ina Müller, Wendlas Schwester
Julia W.
Nicole v. S.
Valentina S.
Moritz Stiefel
Rentier Stiefel, sein Vater
Moritz’ Tante
Johannes W.
Dominik O.
Johanna B.
                      Gymnasiasten
Otto
Robert
Georg Zirschnitz
Ernst Röbel
Hänschen Rilow
Stefan S.
Dominik O.
Lars B.
Michael B.
Lukas F.
                    Schülerinnen
Martha Bessel
Thea
Ilse
Julia S.
Johanna B.
Annika R.
Rekorin
Lehrerin
Sekretärin
Lena S.
Annika R.
Valentina S.
Pastor
Stefan S.
Dr. von Brausepulver, Medizinalrätin
Mutter Schmidtin
Johanna B.
Julia S.
Der vermummte Herr
Stefan S.
                           Backstage
Eine Produktion des
Literaturkurs 13
Kursleitung
Thomas Mehl

Frank Wedekind
 
Der sechsundzwanzigjährige Frank We­dekind, Sohn eines wohlhabenden einstmaligen Deputierten im Parlament der Frankfurter Paulskirche und einer Schauspielerin am Deutschen Theater in San Francisco, hatte Reklame für die Gewürzfirma „Maggi“ gemacht, Artikel für die „Neue Züricher Zeitung“ ge­schrieben, war als Sekretär mit einem Zirkus gereist und mit einem „Feuer­maler“ auf Tournee durch Südfrankreich und England gegangen. Er betrat als Dramatiker die Szene, als dort in den Stücken der Naturalisten meist eine alte, nie vergangene Schuld die gegenwärti­gen Gefühle der Protagonisten schwer belastete. Wenn Wedekind , der in jeder Hinsicht von außen kam, ins Theater ging, sah er Familien sich zerfleischen, ohne dass diese Familien Fleisch hatten. Er nun warf gleich in Frühlings Erwa­chen alle Schuld und Sühne weg und zeigt nur Fleisch: nacktes, bloßes Fleisch, in Kümmernis nicht wegen eines gesellschaftlichen Verhängnisses, sondern wegen einer verhängten Moral. Später war es Frauenfleisch (Lulu, Mu­sik), hier, in Frühlings Erwachen, ist es Kinderfleisch. Wedekind zeigt keine Schicksale, nichts, was aus- und aufein­ander folgt: Wedekind zeigt in seinen Dramen, was passiert, wenn Kopf und Unterleib in Konfusion miteinander ste­hen. Meistens endet es tödlich. Wede­kinds Begleiter war und bleibt deshalb die Zensur, bis er fast schon weltbe­rühmt 1918 nach ein paar provisori­schen Blinddarmoperationen in Mün­chen starb. Frühlings Erwachen wurde erst 1906 von Max Reinhardt am Deut­schen Theater in Berlin uraufgeführt.
Gerhard Stadelmaier




24.07.1864
Frank (Benjamin Franklin) Wedekind wird in Hanno­ver geboren.
1883
Abitur.
1886
Vorsteher des Reklame- und Pressbüros bei Maggi, gegr. 1886, Mitarbeit im Simplicissimus.
1890/91
Frühlings Erwachen.
1895
Der Erdgeist.
1898
Flucht in die Schweiz, Anklage wegen Majes­tätsbeleidigung.
1899
Der Marquis von Keith, Verhaftung, Verurteilung, Begnadigung zu sieben­monatiger Festungshaft (Königstein).
1901
Mitglied des Kabaretts Elf Scharfrichter.
1902
Die Büchse der Pandora.
1904
Die Erstausgabe von Die Büchse der Pandora wird beschlagnahmt.
1905
Totentanz. Die Wiener Erstaufführung wird 1906 zensiert.
1906
Musik. Sittengemälde in vier Bildern.
20.11.1906
Uraufführung Frühlings Erwachen in Berlin, We­dekind selbst spielt den Vermummten Herrn.
1910
Verbot von Frühlings Er­wachen in Königsberg.
1912
Frühlings Erwachen wird in einer gemilderteren Fassung endgültig zur öf­fentlichen Aufführung freigegeben.
09.03.1918  
Wedekind stirbt in Mün­chen.

Eine Kindertragödie

Manchmal träumt der kleine Moritz, wenn er nicht griechische Vokabeln paukt, an den lateinischen Aufsatz und an seine gefährdete Versetzung in die nächste Klasse denkt, von einer Königin. Schön wie die Sonne. Schöner als alle Mäd­chen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen und – da errötet Mo­ritz immer leicht – auch nicht küs­sen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre kleine weich Hand zu ver­ständigen. (und auch bei „kleine weiche Hand“ bekommt Moritz merkwürdige Ge­fühle; Moritz ist vierzehn.) Mit den zierlichen Füßen strampelt sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten, dass keiner den anderen zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin, und die beiden lagen nun ein­ander nicht mehr in den Haaren, sondern küssten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange Jahre glücklich und in Freuden.
   Das Märchen von der kopflosen Königin sitzt Moritz Stiefel so sehr im Kopf, dass er immer, wenn er ein schönes Mädchen sieht, es ohne Kopf sieht, und er sieht in allen Mädchen lauter wunderschöne Mädchen, weil er von Mädchen nichts weiß und auch nicht wissen darf – „und erscheine mir dann selber als kopflose Königin... Möglich, dass mir noch mal einer aufgesetzt wird.“ Erst im Tode, wenig später, bekommt Mo­ritz Stiefel seinen Kopf aufgesetzt. Vorher aber musste er ihn sich mit einer Pistole derart wegpusten, dass sein Gehirn über alle Königskerzen im Wiesengrund verspritzt war. Moritz Stiefel hat sich umge­bracht, weil er nicht in die nächst höhere Klasse ver­setzt wurde und seinen El­tern mit dieser Nachricht nicht unter die Augen treten wollte, aus Furcht, sie grämten sich zu Tode. Lieber also selber sterben. Beim Begräbnis schreit sein Vater ins offene Grab hinunter: „Der Junge war nicht von mir.“ Und die Lehrer wissen als Trost nur: Wir hätten ihn sowieso nicht promoviert. Da kann er also seinen Kopf jetzt ruhig kokett unter dem Arm tragen, ihn ab- und aufsetzen, wenn er mag beim Klettern über Friedhofsmauern oder beim Spuk zur Geister­stunde. Wir sind in einer „Kindertragödie“. Eine Kindertragödie ist immer auch ein Schauerdrama. Erst als trauriges Gespenst ist das Kind Moritz vollständig, wenn auch grau und kalt und leblos, aber immerhin mit Kopf. Ein Kind im Winter.
   Im Frühling aber, im Leben, waren Moritz Stiefel, waren seine Schulkameraden Mel­chior Gabor, Hänschen Rilow, Ernst Röbel, waren die Mädchen Ilse und Thea, Martha und Wendla immer wie kopflose Könige und Königinnen. Es wurde ihnen der Kör­perteil verweigert, mit dem man nicht nur fühlt, sondern auch Gefühle ausdrückt, über sie redet, nach ihnen fragt, sie bewältigt, ihnen nachgibt, sie genießt. Denn auch die Geilheit, die Lust, die Sexualität, das ganze leben, die Sinne sitzen zuerst im Kopf.
Gerhard Stadelmaier: Traumtheater. Frankfurt am Main 1997

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